Das nationalsozialistische Lagersystem
Entstehung und Ausdifferenzierung
Mit dem Nationalsozialismus kam im Januar 1933 eine Ideologie in
Deutschland an die Macht, die einen Krieg gegen den "Status des
Menschseins" (Hannah Arendt) eröffnete. Wie kein Staat zuvor ging das
nationalsozialistische Deutschland rigoros gegen alle Menschen vor, die
sich nach politischen, sozialen, kulturellen, ethnischen Kriterien, also
in Denk- oder Lebensweise, Aussehen oder Verhalten, von der jeweils
gültigen Deutung des NS-Staates unterschieden.
Bereits im Februar begann die Entwicklung von Maßnahmen zur Umsetzung der
NS-Ideologie, der Disziplinierung, Kontrolle, Terrorisierung und
Vernichtung. Dazu zählte die Schaffung von Verhör-, Haft-, Folterstätten,
die in ein System nationalsozialistischer Lager mündete. Die bekannteste
Form bildet das Konzentrationslager, Symbol nationalsozialistischen
Terrors schlechthin, doch schuf der NS-Maßnahmenstaat ein breites Spektrum
unterschiedlicher Lager. Mit ihnen baute er für jeweils unterschiedliche
Gruppen von Verfolgten und mit unterschiedlichen Zielen seine Macht stetig
aus.
So existierten neben den Konzentrationslagern bereits vor Beginn des
Krieges 1939 vorübergehend oder über Jahre hinweg zahlreiche
Schutzhaftlager, Jugendschutzlager, Arbeitserziehungslager,
Sicherungslager, Sonderlager, Polizeihaftlager, Haftanstalten der Geheimen
Staatspolizei und der Ordnungspolizei, Justizhaftlager,
Strafgefangenenlager. Nach Kriegsbeginn kamen hinzu: Germanisierungslager,
darunter selbst Säuglings- und Kleinkinderlager mit polnischen Kindern,
Ghettolager, Kriegsgefangenenlager, Lager für ausländische
Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter, Zwangslager für Sinti und Roma.
Daher ist für das nationalsozialistische Deutschland treffend von der
"Lagerisierung" (Andrzej Kaminski) des gesellschaftlichen Lebens gesprochen
worden.
Keine dieser Lagerformen wurden von Anfang an in allen Einzelheiten
konzipiert, sondern wurden nach und nach weiterentwickelt. Mit den
Konzentrationslagern verfügten die Nationalsozialisten bald über eine
besondere Institution der Kontrolle und des Terrors. Diese weiteten sie in
Abstimmung mit den jeweiligen Zielsetzungen des NS-Staates in der
Folgezeit konsequent aus. So entstand in mehreren Phasen ein sich
radikalisierendes System von Konzentrationslagern, das nicht negative
Begleiterscheinung, sondern konstitutives Element nationalsozialistischer
Ideologie und Herrschaft darstellte.
Die erste Phase (1933-1936) umspannt die Jahre unmittelbar nach der
Machtübernahme, in denen die Ausschaltung der politischen Gegner und
Festigung der Macht im Mittelpunkt standen. In einer Anfangsphase
entstanden die ersten Lager, die wegen ihres improvisierten Charakters als
„wilde Lager“ bezeichnet worden sind, bis 1934 insgesamt 59 (Schwarz, S.
29). Sie waren weder ausschließlich an verborgenen Orten errichtet noch
generell vor der Bevölkerung geheim gehalten. Das im März 1933 in Dachau
errichtete Konzentrationslager war zunächst das einzige, das der Kontrolle
der Justiz entzogen wurde und ab da allein der SS unterstellt war. Von
hier aus begann auf Betreiben Heinrich Himmlers der Auf- und Ausbau von
solchen Lagern, die die SS als Terror- und Ausbeutungsinstrument allein
kontrollierte.
1936 ging die Entwicklung der Konzentrationslager in eine neue Phase über
(1936-1939), in der bis Kriegsbeginn fünf neue Konzentrationslager
errichtet wurden: Sachsenhausen (Sommer 1936), Buchenwald (Juli 1937),
Flossenbürg (Mai 1938), Mauthausen (August 1938) und Ravensbrück (Mai
1939). In dieser Zeit fand der eigentliche Ausbau zu einem System der
Konzentrationslager statt. Da politische Opposition bis dahin weitgehend
unterdrückt war, sollten die Lager künftig die Umsetzung einer
völkisch-weltanschaulichen Sozialpolitik ermöglichen, was andere Gruppen
der deutschen Gesellschaft als bisher zu potentiellen Häftlingen machte.
Wirtschaftliche Ausbeutung der Inhaftierten trat zur Funktion der
Disziplinierung, Kontrolle und Unterdrückung hinzu.
Die dritte Phase der Konzentrationslager (1939-1941/42) wurde mit Beginn
des Zweiten Weltkrieges eingeläutet. In ihr erfolgte der Neubau weiterer
Lager vor allem in den besetzten Gebieten, die Ausdehnung der Verfolgung
auf weitere Häftlingsgruppen und somit die rasche Ausweitung der
Häftlingszahlen. Unter den Kriegsbedingungen verschlechterte sich die
Situation in den Lagern mit der Folge, dass Todesraten in die Höhe
schnellten, z. B. in Dachau von 4% (1938) auf 36% (1942). Hinzu kamen nun
erstmals die in großem Stil durchgeführten systematischen Tötungsaktionen,
darunter die Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener und die Mordaktion
der Inspektion der Konzentrationslager "14 f 13".
An der Wende ins Jahr 1942 vollzog sich der Übergang in die vierte und
letzte Phase der Konzentrationslager (1942-1945). Zu der Zeit diente das
Lagersystem dem NS-Staat als Verwahrungsstätte für ein stetig zu
erweiterndes Arbeitskräftereservoir einerseits und als Instrument der
Vernichtung andererseits, in deren Mittelpunkt die Ermordung der
europäischen Juden stand. Als neuer Lagertypus kam das Vernichtungslager
hinzu, so in Belzec, Sobibor und Treblinka, das als reiner Tötungsapparat
fungierte. Auschwitz als Konzentrations- und Vernichtungslager nahm eine
besondere Stellung ein. Auf seinem Höhepunkt bestand das KZ-System aus 22
Hauptlagern und 1.200 Außenkommandos.
Die Zahl der Inhaftierten stieg in der Phase rapide an. Aus rund 110.000
Häftlingen im September 1942 wurden bis August 1944 524.000 Menschen. Es
wird angenommen, dass bei Kriegsende etwa 700.000 Menschen in
nationalsozialistischen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden
(Herbert/Dieckmann/Orth, Bd. 1, S. 24 und S. 30). Ab April 1944 wurden
viele Lager angesichts der heranrückenden sowjetischen Armee geräumt, d. h.
dass die Bewacher den Großteil der entkräfteten Häftlinge auf so genannte
"Todesmärsche" in die Lager im Reichsgebiet zwangen. Viele starben auf dem
Weg dorthin oder unter den katastrophalen Bedingungen in den verbleibenden
Lagern.
Weiterführende Literatur
Drobisch, Klaus; Wieland, Günther: System der NS-Konzentrationslager
1933-1939, Berlin 1993
Herbert, Ulrich; Dieckmann, Christoph; Orth, Karin (Hrsg.): Die
nationalsozialistischen Konzentrationslager, 2 Bde., Göttingen 1998
Orth, Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager,
Zürich, München 2002
Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt am Main 1996